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willis Abschied

Willis Abschied

„Ihr Vater ist schon wieder draußen rumgeirrt. Sie sollten wirklich besser auf ihn aufpassen“, raunt der große muskulöse Typ das Mädchen an meiner Seite an, dass ich nicht kenne.

„Ja, Mr. Schumacher, da haben sie absolut recht.“ Sie nimmt mich an meinem Arm und führt mich in das fremde Haus.

„Entschuldigen Sie Miss, wieso bringen Sie mich hier rein? Kennen wir uns?“
„Dad, ist schon gut. Ich bin deine Tochter und das hier ist unser Zuhause. Du bist hier sicher.“

„Ich habe eine Tochter? Wo ist Mary, die wird das bestimmt besser wissen als ich. Sie weiß immer alles besser.“
„Dad, Mum ist leider schon vor vielen Jahren an Krebs gestorben.“
„Nein, das kann nicht sein. Ich habe doch gestern noch mit ihr gesprochen.“ Mir wird flau im Magen. Wie kann es sein, dass ich die Liebe meines Lebens vergessen habe? Oder eher gesagt, vergessen habe, dass sie gestorben ist?
„Dad, du leidest an Alzheimer, im fortgeschrittenen Stadium. Du hast leider sehr häufig Gedächtnisprobleme. Ich gebe dir jetzt erst mal deine Tabletten.“

Sie scheint ein nettes Mädchen zu sein. Wenn sie wirklich meine Tochter ist, habe ich ja alles richtig gemacht.

Ich setze mich in den gemütlichen Ohrensessel vor den Fernseher. Meine selbsternannte Tochter bringt mir meine Tabletten, die ich einnehme. Das sind ganz schön viele. Ich scheine ein sehr alter Mann zu sein, wenn ich die alle brauche. Meine Tochter legt mir eine Decke über die Beine. Es dauert nicht lange und ich schlafe ein.

Als ich wieder wach werde, liege ich in einem schmalen Bett, das aussieht wie ein Krankenhausbett, aber es steht in einem Wohnzimmer. Wo bin ich? Sind Mary und ich nicht vor ein paar Stunden zusammen ins Bett gegangen? Wo ist Mary? Ich bekomme Angst. Vielleicht sollte ich raus gehen und gucken, wo ich bin. Also mache ich mich auf den Weg und suche die Haustür. Aber die ist abgeschlossen. Hat mich jemand entführt?  

Ich gehe weiter durch das fremde Haus, vorbei an einem Schrank voller VHS Kassetten mit Disney Filmen. Wer wohnt hier? Hinter dem Schrank kommt die Tür zur Küche. Ich schaue mich um und finde eine weitere Tür, die nach draußen führt. Sie ist nicht abgeschlossen. So schnell wie möglich fliehe ich aus diesem mir unbekannten Haus. Ich muss Mary finden. Vielleicht waren wir ja auf dem Jahrmarkt und ich habe wieder zu viel getrunken.
Ich glaube, es ist keine schlechte Idee, mal am Pier zu gucken, ob Mary noch dort ist. Also mache ich mich auf den Weg, die Hauptstraße entlang, in Richtung Ortsausgang.

Nach etwa einer halben Stunde, erreiche ich den Rand der Stadt und kann von hier aus bereits die Musik des Jahrmarkts hören und das Riesenrad sehen. Die Sonne scheint mir in die Augen. War es nicht gerade noch dunkel?
Ich gehe den schmalen Pflastersteinweg hinab in Richtung Pier. Ein kleiner Junge kommt mir entgegen in einer Hosenträgerhose mit Flicken auf den Knien und einem Luftballon in den Händen, der aussieht wie ein Einhorn. Er winkt mir zu und läuft lachend an mir vorbei. Was für ein schöner Tag.

Als ich am Ende des Weges angekommen bin, stehe ich vor dem Eingang des Jahrmarkes. Es ist der Frühlingsmarkt, wie es mir die Leuchtschrift verrät. Auf dem Jahrmarkt tummeln sich viele Menschen, die feiern und lachen und Zuckerwatte essen.

Vorbei an den Schießbuden und den Jahrmarktschreiern, laufe ich auf einen aufgebauten Springbrunnen zu. Und dort steht sie. Wunderschön wie eh und je. Sie kommt mir entgegengerannt und wirft ihre schlanken Arme um meinen Hals.

„Willi, du bist endlich wieder zurück! Ich wusste gar nicht, dass dein Lehrgang bei der Army bereits zu Ende ist. Ich habe dich so vermisst!“
„Ich habe dich auch vermisst Mary! Ich wollte dich überraschen und so wie du strahlst, ist es mir gelungen.“
„Ja, und wie! Ich bin so froh dich zu sehen.“

Sie nimmt mich an der Hand und führt mich zu dem Süßigkeiten Geschäft eines Chinesen. Dort kaufe ich ihr eine große Tüte Gummibärchen. Sie liebt diese knatschigen Dinger und könnte sich ausschließlich davon ernähren. Dann zeigt sie auf eine Schachtel.

„Lass uns doch mal schauen, was das Universum an Überraschungen für uns bereithält.“

In der Schachtel sind Glückskekse. Das steht zumindest darauf. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was Glückskekse sind. Für ein paar Cent reicht uns der Chinese jedem einen. Mary fummelt die Verpackung um den Keks herum ab und zerbricht ihn in der Mitte. Ich mache es ihr nach.

„Was steht auf deinem?“, fragt sie mich.

„Sie werden neue Wege gehen. Und bei dir?“

„Ein lang gehegter Wunsch geht in Erfüllung. Was damit wohl gemeint ist?“ Sie lächelt mich mit diesem allwissenden Lächeln an, als wüsste sie, dass ich unsere Ringe bereits bestellt habe. Ich lege meinen Arm um ihre Schulter, lächle zurück und gebe ihr einen Kuss auf ihre linke Wange. Es ist einer der schönsten Tage meines Lebens.

Während wir über den Jahrmarkt laufen, kommen uns zwei Kinder händchenhaltend entgegen. Der Junge drückt dem Mädchen einen Kuss auf die Backe und die Kleine wird rot.

„Wenn ich groß bin, heirate ich dich. Und wenn ich alt bin, will ich mit dir sterben“, sagt er zu ihr und die Kleine nickt aufgeregt.

„Wie goldig die sind, oder?“ sagt Mary.

„Ja, die beiden sind wirklich zu beneiden.“

Ich kaufe ihr einen Luftballon in Form eines Flamingos. Einhörner passen in meinen Augen nicht zu ihr. Sie ist kein Fabelwesen, sondern eine sehr reale Schönheit auf diesem Planeten.

„Oh, der ist aber schön. Vielen Dank mein Liebster.“

Sie dreht sich zu mir und küsst mich. Im selben Moment fängt der Wind an zu wehen.

„Komm, lass uns einen Wunsch auf einen Zettel schreiben und an den Luftballon hängen. Und dann lassen wir ihn in den Himmel fliegen. Vielleicht wird er ja erfüllt?“

„Das ist eine großartige Idee.“ Ich laufe zur nächsten Schießbude und besorge uns einen Zettel und einen Stift. Wir notieren unsere Wünsche auf dem Zettel und hängen ihn an die Schnur. Als der nächste starke Windstoß kommt, lassen wir den Luftballon fliegen. Ich nehme Mary in den Arm und wir schauen dem Flamingo hinterher, wie er in den Himmel steigt. Der Wind nimmt Fahrt auf und wird immer stärker. Mary schaut mich besorgt an und ich schaue mich um. Ich sehe, wie der Wind sämtliche Farben an den Fahrgeschäften und an der Kleidung der Menschen wegweht. Die Farbe blättert ab und fliegt mit dem Wind davon. Wie Herbstlaub. Es wird dunkler und die Buden sehen aus, als wären sie aus einem Schwarzweißfilm hierher versetzt worden. Als würde sämtliches Sonnenlicht von ihnen verschluckt. Ich schaue Mary an und sehe Tränen in ihren Augen stehen.

„Was ist los? Was geht hier vor sich?“ frage ich sie.

„Das hast nur du im Griff. Es ist deine Vorstellung.“
„Was meinst du damit?“

Jetzt werden all die Menschen, die von dem Wind anscheinend nichts mitbekommen, auf einmal durchsichtig, als würden sie sich auflösen. Wie kann das sein?

Ich merke, wie sich meine Brust zusammenzieht. Ich kann nicht richtig atmen, meine Hände zittern und meine Beine tragen mich nicht mehr. Ich muss mich setzen. Die kalte Stahlbank, auf der ich Platz finde, war gerade noch nicht da. Mary setzt sich neben mich. Durch sie hindurch, kann ich nun das Meer sehen.

„Ich wäre so gerne mit dir zusammen gegangen“, sage ich zu ihr.

„Darum bin ich hier. Um dir diesen Wunsch zu erfüllen, Willi.“ Ich lege meinen Arm um Marys Schulter, die jetzt ganz kalt ist und hole ein letztes Mal tief Luft, bevor meine Lungenflügel ihre Arbeit einstellen und meine Augen sich schließen.

Jetzt bin ich bei ihr.

Meine Tochter findet mich wenig später auf einer Parkbank mitten in der Stadt, mit einem alten Flamingo-Luftballon in der Hand. An der Schnur hängt ein Zettel.„Meine liebste Tochter, ich werde jetzt zu Mum gehen. Wir sehen uns bald wieder. Dein dich lieben

Bildquellen

  • willis Abschied: Harrison Haines/Pexels

Autorin, Kurzgeschichtenschreiberin, Senior Accountant Managerin in einer Werbeagentur