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Blicke – eine Geschichte

Die meisten Menschen, die sie kannten, bezeichneten sie als starke Frau. Unerschütterlich.

Eine Geschichte darüber, was Blicke anrichten und was Vorurteile über Vorurteile sind.

Als sie wach wurde, bemerkte sie bereits die Spannung, die sich über ihren ganzen Körper zog. Stundenlang hatte sie sich wieder von links nach rechts gewälzt und die Gedanken waren durch ihren Kopf gerannt. Warum konnte sie nicht einmal eine Nacht ruhig schlafen? Aber es kam immer nachts. Nicht tagsüber, nein, immer nachts. Als ob sich ihr Körper schlafen legen und die Seele so endlich den Kampf gegen den Körper aufnehmen konnte, wenn sie wegdriftete und die Kontrolle verlor.

Sie musste aufstehen. Auf sie wartete ein anstrengender Tag. Sie warf sich ein paar Tabletten ein und schleppte sich ins Bad. Auf Füßen, die zu platzen schienen. Auf Beinen, die zu weich zum Laufen waren. Mit einem Körper, der zu schwach zum Existieren war.

Den Spiegel im Bad mied sie bereits eine ganze Weile. Ihr Anblick trieb ihr Tränen in die Augen.

„Hör auf, dich zu bemitleiden. Mach dich fertig und sieh zu, dass du zum Zug kommst“, sagte sie zu sich selbst. Und tat es auch.

Der Weg zum Zug war nicht lang. Maximal fünfzehn Minuten. Die letzten fünfzehn Minuten, die ihr allein gehörten. Die letzten Minuten, bevor die Blicke auf sie einstürzen und ihre Seele unter sich begraben würden.

Als sie am Bahnhof ankam, fuhr schon der Zug nach Frankfurt ein. Die Arbeiterstadt für alle oberflächlichen, braven Arbeiterameisen. Wie sie eine war. Nur war sie anders.

Sie stieg in eins der mittleren Abteile ein und setzte sich auf einen freien Doppelplatz. Ihre Tasche stellte sie neben sich. Der Sitz neben ihr würde so oder so frei bleiben.

Und da waren sie auch schon. Pünktlich, wie immer.
Die Blicke.

Ein junger Mann gegenüber von ihr schaute von seinem Buch auf und sah sie an. Als sie seinen Blick mit ihren zugeschwollenen und schmerzenden Augen erwiderte, zuckte er zusammen studierte hastig wieder seine Buchseiten. Sie sah ihm an, dass er sich zwingen musste, nicht wieder aufzuschauen. Sie starrte aus dem Fenster auf die schneebedeckte Landschaft.

Jetzt kannst du mich in Ruhe anglotzen. Scheiß Gaffer!

An der nächsten Haltestelle stieg eine Mutter mit Kind ein. Als der kleine Junge an ihr vorüberlief, blieb er stehen und sah sie fragend an. Seine Mutter zog ihn an seinem kleinen Händchen weiter.

„Mama, was hat die Frau da?“

„Keine Ahnung, mein Schatz, aber man guckt nicht“, antwortete sie ihm.

Ja genau! Man guckt nicht. Aber hey, ich scheine hier ja eine wandelnde Unfallstelle zu sein, die nur dazu einlädt.

Nach fünf Minuten hielt der Zug erneut. Langsam wurde es voll. Aber der Platz neben ihr würde leer bleiben.

Viele Anzugträger bestiegen den Zug und liefen an ihr vorüber. Einer machte Anstalten, seinen Koffer in das obere Gepäckfach zu legen. Dann sah er ihr ins Gesicht. Er blickte sich hilflos um. Wusste nicht, was er tun sollte und ging schließlich weiter. Das war der hilflose Blick, den er ihr geschenkt hatte. Typisch für Menschen, die mit kranken Personen nichts anfangen können. Weil sie es nicht kennen, nicht verstehen und sich davor fürchten.

Verzieh dich, du Pappnase. So hab ich wenigstens meine Ruhe.

Aber noch war sie nicht an ihrem Ziel. Allmählich begannen die Tabletten zu wirken und die Spannung auf ihrer Haut nahm ab. Was nicht hieß, dass die Schwellungen zurückgingen. Sie fühlte sich nur etwas besser.

Erneut öffneten sich die Türen. An diesem Bahnhof stiegen die meisten Menschen ein. Eine weitere Horde Anzugträger lief an ihr vorüber. Niemand setzte sich neben sie.

Sehr schön. Ich hab auch kein Bock auf eure verstohlenen Blicke.

Plötzlich war sie da. Die soziale Blickversion. Eher selten, aber dennoch existent. Eine junge Frau mit Dreadlocks schmiss ihren Rucksack in das obere Gepäckfach und sie konnte ihre Tasche gerade noch rechtzeitig auf ihren Schoß retten, bevor sich das Mädchen auf den Sitz plumpsen ließ. Und sie neugierig betrachtete.

Oh nein. Bitte, nichts sagen. Lass mich einfach in …

„Hey! Geht es dir gut? Oder kann ich dir helfen?“, fragte die junge Frau auch schon.

„Danke der Nachfrage, aber mir geht es prima.“

Sie drehte sich wieder Richtung Fenster und zog die Kapuze ins Gesicht.

Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß. Ich bin keins deiner Sozialprojekte.

In Frankfurt angekommen musste sie in die U-Bahn umsteigen und wappnete sich vor der schlechten Luft und weiteren Versionen von Blicken, die ein Stockwerk tiefer lauerten.

Sie lief in den hinteren Bereich des Bahnsteigs. Meistens warteten dort nicht so viele Menschen.

Sechs Minuten sollte die Bahn noch brauchen. Sechs Minuten warten und …

„Na, auch kein Menschen-Freund, was?“, drang eine Stimme von links in ihr Ohr.

„Bitte?“, fragte sie perplex und drehte sich um.

„Sorry, aber deine Haut spricht Bände. Ich weiß genau, wie sich diese Blicke anfühlen und da denke ich mir, dass du heute Morgen kein besonderer Menschen-Freund bist. Außerdem stehst du abseits und deine Kapuze verdeckt deine schönen grünen Augen.“

Was zum Geier will der geschniegelte Anzugträger mit seinem perfekten Liam Hemsworth-Aussehen damit sagen? Was geht ihn das an?

„Ich hatte mal denselben Scheiß“, sagte er, bevor sie ihre Sprache wiederfand. „Und im Übrigen ist es egal, wie man aussieht. Viele Menschen haben viele Blicke für Fremde übrig. Für mich zum Beispiel. Neid. Oder Missgunst. Oder warte: Der ‚Sieht-gut-aus-aber-hat-bestimmt-nichts-in-der-Birne‘-Blick. Ähnlich wie deiner gerade …“

Er machte einen altertümlichen Knicks. Gegen ihren Willen musste sie lächeln. Der Zug fuhr ein.

Und an diesem Tag blieb der Platz neben ihr nicht frei.

Autorin, Kurzgeschichtenschreiberin, Senior Accountant Managerin in einer Werbeagentur