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körtner

Kankheit und Lebenssinn

Schwere Krankheiten, zumal wenn sie chronisch, lebensbedrohlich oder gar tödlich sind, werfen existentielle Fragen auf: Warum ich? Warum ausgerechnet diese Krankheit? Warum gerade jetzt? Wie Patienten fragen auch ihre Angehörige nicht nur nach den möglichen Ursachen, nach Erklärungen und Therapiemöglichkeiten, sondern auch nach dem tieferen Sinn, der möglicherweise in der Krankheit liegt. Fraglich erscheint vielleicht, welchen Sinn ihr von Krankheit beeinträchtigtes, bedrohtes oder dauerhaft bestimmtes Leben überhaupt hat. 

Krankheiten können eine tiefe Zäsur in der persönlichen Lebensgeschichte sein. Menschen erzählen: „Das war vor oder nach meinem Herzinfarkt“ – „Das war vor oder nach meiner schweren Operation“. Chronische Krankheiten können aber auch geradezu zur Lebensform werden. Mit einer Krankheit leben zu lernen, bedeutet unter Umständen mit tiefen Umwälzungen und Brüchen in der eigenen Biographie zurechtkommen zu müssen, auch in der Berufsbiographie. Der ganze Tagesablauf kann von der Krankheit bestimmt sein, und zwar nicht nur für den Patienten, sondern auch für seine Familie. Partnerschaften können durch die Erfahrung, eine Krankheit gemeinsam zu tragen, wachsen und Tiefe gewinnen. Sie können aber auch daran zerbrechen. Nicht nur das körperliche, sondern auch das psychische Leiden kann sich bis zur Unerträglichkeit steigern. 

Wir Menschen sind auf Sinn ausgerichtete Wesen. Wir suchen einen Sinn in unserem Leben mit seinen Höhen und Tiefen, aber auch im Weltganzen. Wir fragen nicht nur, warum etwas geschieht, sondern wollen auch wissen wozu. Eine Krankheit und ihre möglichen Ursachen medizinische zu erklären, heißt eben noch nicht, Sinn und Bedeutung der Krankheit zu verstehen. Es gehört aber auch zur menschlichen Erfahrung, dass die Frage nach dem tieferen Sinn des Ganzen nicht immer eine Antwort findet. Die Wirklichkeit im Ganzen erscheint als eine Gemengelage von Sinnhaftem und Sinnwidrigem. 

Menschen können daran zerbrechen, dass sie auf die letzten Sinnfragen keine Antwort finden. Es gibt aber auch die Möglichkeit, einen tieferen Lebenssinn gerade darin zu finden, das Sinnwidrige zu ertragen und ihm zu widerstehen. Dazu ist es hilfreich, einem Vorschlag des evangelischen Theologen Johannes Fischer zu folgen und zwischen Sinn und Bedeutung zu unterscheiden. Während sich die Bedeutung einer Krankheit in der Beziehung zur Person erschließt, die von ihr betroffen ist, soll der Sinn durch die Beziehung zu etwas erschlossen werden, aus dem sich erklärt, warum etwas gerade dieser Person und gerade jetzt zustößt. Versuche, einer Krankheit auf diese Weise einen Sinn zu geben, sind der Tun-Ergehen-Zusammenhang, zumeist gepaart mit persönlichen Schuldgefühlen und Schuldzuweisungen. Eine andere Sichtweise versteht Krankheiten als Läuterungs- oder Reifungsprozesse. Solche Zusammenhänge sind nicht grundsätzlich von der Hand zu weisen, aber sie treffen eben längst nicht immer zu. Sicher erhöht zum Beispiel Rauchen das Lungenkrebsrisiko. Aber in vielen Fällen ist eine Krebserkrankung schlicht Schicksal. Und wie man an Krankheiten reifen kann, so kann man an ihnen auch zerbrechen und von ihnen innerlich wie äußerlich zerrüttet werden. 

Nicht alles im Leben ist mit Sinn erfüllt. Die eigene Würde kann aber gerade darin bestehen, das Sinnwidrige zu ertragen, ohne es zu etwas Sinnhaftem umzudeuten. Religion und Glaube können dafür eine Ressource sein, weil sie die Möglichkeit eröffnen, in Klage und Zuversicht das eigene Leben vor Gott zu stellen, ohne der Krankheit als solcher einen Sinn beizumessen.  Glaube kann auch eine Ressource sein, um Menschen in ihrem Leiden beizustehen, ohne ihnen vorzureden, man müsse nur genug glauben oder positiv denken, um am Ende doch in allem einen Sinn zu finden. Ein angemessener Umgang mit Krankheiten und unserer Endlichkeit bewegt sich zwischen Widerstand und Ergebung. Wann das eine und wann das andere gefordert ist, lässt sich nicht eindeutig festlegen, aber es muss beides dasein. Wer sich dabei von Gott getragen und bei ihm aufgehoben weiß, kann vielleicht in Anlehnung an Worte des Apostels Paulus sagen: Ich bin von allen Seiten bedrängt, aber ich ängstige mich nicht. Mir ist bange, aber ich verzage nicht. Ich leide Not, aber ich werde nicht verlassen. Ich werde zu Boden geworfen und doch nicht vernichtet. Darin drückt sich eine Hoffnung auf einen letzten Sinn der eigenen endlichen, zerbrechlichen und unvollkommenen Existenz aus, der selbst noch über das eigene Sterben hinausreicht. 

Ordinarius für Systematische Theologie (Reformierte Theologie) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien; Institutsvorstand; Jahrgang 1957